Tobias saß vor Schreck kerzengerade im Bett.
Er war doch gerade erst mühevoll eingeschlafen.
Ungewöhnlich für ein Kind, mit dem Einschlafen zu kämpfen, meinte Tante Bertha immer.
Aber Tobias musste früh lernen, nicht kindlich zu sein – zumindest nicht ausschließlich Kind zu sein.
Denn seine Phantasie schlich sich doch immer wieder ein und verzauberte ihn an Orte, an denen er ein Kapitän, ein Zirkusdirektor, ein Rennfahrer, ein Prinz, ein Entdecker und sogar einmal der Weihnachtsmann persönlich am Nordpol war.
Früher dauerten seine Reisen viel länger und meistens ging es beim Einschlafen los, und in den Träumen kamen die Abenteuer so richtig in Fahrt.
Die Veränderung seines kindlichen Daseins war nicht dem Alter geschuldet, sondern der Veränderung seines Vaters in den letzten Jahren.
Seine Eltern träumten lange von einem Leben am Land mit einem Haus auf einem Hügel stehend, mit Blick in die Ferne.
Ein eigener Stall sollte Schafe, Ziegen, Esel und besondere Rinder aus der Toskana beherbergen.
Im Haus durfte auch ein Hund nicht fehlen, einer zum Aufpassen, aber auch zum Kuscheln, sagte seine jüngere Schwester Marie.
Die Kinder hatten sich bereits Namen für die Tiere ausgedacht.
Das Haus war gefunden, doch kurz bevor der Traum Wirklichkeit wurde und die Wohnung bereits gekündigt war, stellte sich heraus, dass der Vater das Ersparte ausgegeben hatte – für das ganze Zeug, das sich im Keller stapelte und am Schluss sogar in Magdalenas Zimmer weiter ausdehnte, die sich dann als älteste Schwester mit Marie und Tobias mit größtem Unmut ein Zimmer teilen musste.
Tobias hörte einmal die Mama zu Tante Bertha sagen: „Der Josef meint’s nicht böse mit uns – er ist krank. Er will dauernd alles haben und ist der Schnäppchenjagd verfallen. Er braucht Unterstützung und eine Familie, die hinter ihm steht.“
Nun wohnen sie alle vorübergehend bei Tante Bertha in einer alten Wohnung in der Stadt.
Eigentlich ist Tante Bertha gar nicht ihre Tante, sondern die beste Freundin der Mama, aber sie mag es, Tante genannt zu werden.
Tobias merkte, aus den Gedanken gerissen, dass er noch immer im Bett aufrecht saß und ergründete, warum er aufgewacht war.
Er erinnerte sich: Es war ein kalter Windzug, der ihn weckte. Sein Blick wanderte vom hereinblickenden Vollmond in die Küche.
Nicht nur die Tür stand im ursprünglichen Arbeitszimmer von Tante Bertha offen, auch das Tiefkühlfach über dem Kühlschrank war leicht geöffnet und schickte Eiswolken in die Luft.
Tobias schlüpfte in seine Pantoffeln und ging Richtung Kühlschrank. Die breite Uhr bei der Sitzecke machte einen Klacks und die Zahlen von Datum und Uhrzeit drehten sich.
Es war der 24.12.2025, Mitternacht. Tobias dachte, dass soeben Weihnachten eingeklackst wurde. Ein stets besonderer Tag für die Familie, eigentlich der größte Tag überhaupt.
Und genau ein Jahr und eine Woche, dass sie bei Tante Bertha eingezogen waren, statt ins Haus am Land. Von wegen vorübergehend, zischte Tobias, als seine Hand den eisigen Tiefkühler schließen wollte.
Doch statt die Tür zu schließen verspürte er einen Drang, die Tür ganz zu öffnen und in das Fach hineinzuschauen, was er ohne nachzudenken auch einfach tat.
Wo war sein karierter Pyjama hin – er hatte einen blauen Skianzug an, eine dicke rote Wollhaube auf und einen ebenso dicken Schal um den Hals, den er letztes Jahr zu Weihnachten bekommen hatte und der herumflatterte.
Er rodelte einen Hügel hinunter, hinter ihm saß Marie und umklammerte ihn. Knapp davor war Magdalena auf einer eigenen Rodel.
Als er sich nochmals umdrehte, sah er das Haus am Hügel. Mama und Tante Bertha standen vor einer Feuerschale mit zwei dampfenden Häferln in der Hand und lachten.
So hatte er die beiden schon lange nicht mehr lachen gesehen. Das Lachen wurde von einem Blöken und einem I-Ahh unterstützt.
Drei Männer, als kämen sie aus dem Morgenland, trugen Kisten ins Haus. Ein zotteliger Hund mit Knopfaugen wedelte mit dem Schweif und umkreiste die Männer.
Papa Josef schlug einen wunderschönen Tannenbaum ins Kreuz und rief Mama zu: „Marie, die Weihnachtskiste ist die letzte im Wagen. Wenn ihr wollt, könnt ihr mit dem Aufputzen beginnen.“
Papa wirkte wie früher, kraftvoll und entschlossen.
Als Tobias die Rodel inklusive Marie auf den Hügel zog, sah er die offene Tür ins Haus. Es flackerte Holz in einem großen Kamin und ein Bratgeruch, ergänzt von Orange und Zimt, drang in seine Nase.
Er wusste, er darf wieder Kind sein. Alles ist wieder gut.
Auf einem Holzspieß neben der Feuerstelle dampften knallrote, glänzende Äpfel. Wie von Meisterhand gemacht, wurde in jeden der Äpfel mit einem Schnitzmesser ein Haus inklusive Kamin eingeschnitzt.
Er sah nur noch die roten Rücklichter des Wagens mit den drei Männern und die Aufschrift: Partner von FINDMYHOME.AT – GLEICH BIST DU ZUHAUSE.
In einer Schale am Tisch beim Eingang lag der Hausschlüssel mit drei Schüsseln. In der einen befand sich Weihrauch, in der anderen Myrrhe und in der dritten etliche goldene 50-Cent-Stücke.
Josef zwinkerte seinem Sohn zu: „Keine Privatkäufe und Verkäufe mehr, versprochen – und jetzt lass uns Weihnachten in unserem neuen Zuhause feiern.“
Tobias schlief sofort herzerfüllt in seinem neuen Zimmer ein. Zuvor wünschte er Mama Maria, Papa Josef, seinen Schwestern Marie und Magdalena und natürlich Tante Bertha eine gute Nacht.
Text: Bernd Gabel-Hlawa









