Länger leben – und das bei möglichst guter Gesundheit: Genau das verspricht die Longevity-Medizin, ein junger Bereich der Präventionsmedizin, der weltweit an Bedeutung gewinnt. Dr. Karin Stengg ist eine der führenden Expertinnen auf diesem Gebiet in Österreich. Die Wienerin ist Fachärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie und setzt sich seit einigen Jahren intensiv mit dem Thema Altern auseinander. Im Gespräch erklärt die Präsidentin der internationalen Gesellschaft für Healthy Aging Medizin, warum Gene nur einen geringen Teil unserer Alterung bestimmen, weshalb Lebensstilentscheidungen entscheidend sind – und mit welchen Maßnahmen jeder sofort beginnen kann.
Frau Dr. Stengg, was versteht man unter dem Begriff Longevity? Geht es nur um ein längeres Leben – oder vielmehr um ein gesünderes, aktiveres Leben?
Die Healthy-Aging- und Longevity-Medizin ist eine neue Form der Präventionsmedizin – im Gegensatz zur klassischen Reparaturmedizin. Ihr Schwerpunkt liegt im frühzeitigen Erkennen von Risiken und Veranlagungen, die Krankheiten begünstigen können. Ziel ist es, das biologische Alter möglichst lange zu erhalten, sowohl die körperliche als auch die geistige Gesundheit zu fördern und chronischen Erkrankungen vorzubeugen. Vorzeitiges Altern oder frühes Erkranken wird durch Genetik und Epigenetik bestimmt – und genau hier setzt die Longevity-Medizin an: Sie will die Gesundheitsspanne verlängern.
Welche Prinzipien der Longevity gelten als wissenschaftlich am besten belegt?
Zahlreiche Studien zeigen, dass epigenetische Prozesse auch im Erwachsenenalter veränderbar sind. Die für die Methylierung notwendigen Enzyme bleiben auch im erwachsenen Gehirn aktiv. Diese Prozesse wirken auf alle Säulen der Longevity-Medizin: Ernährung, Bewegung, Schlaf, Stressbewältigung, Darmmikrobiom, Hormone und Knochengesundheit.
Es gibt viele Schlagworte – von „Blue Zones“ bis „Biohacking“. Was davon ist fundierte Wissenschaft, was eher Lifestyle-Trend?
Die Studienlage zu den sogenannten Blue Zones ist nicht eindeutig, dennoch zeigen sie wertvolle Faktoren auf: gesunde Ernährung, regelmäßige Bewegung, soziale Kontakte und gute Stressbewältigung. Allesamt Aspekte, die mit Epigenetik zusammenhängen und für eine längere Gesundheitsspanne wichtig sind. Beim Biohacking muss man unterscheiden: Manche Ansätze sind fundiert und wissenschaftlich erforscht, andere reine Wellness-Trends ohne wissenschaftliche Basis.
Wie groß ist der Einfluss der Gene, und wie groß der Einfluss des Lebensstils? Kann man durch tägliche Gewohnheiten den Alterungsprozess tatsächlich verlangsamen?
Die Genetik macht nicht mehr als 30 bis 35 Prozent aus. Die eigentliche Macht liegt in der Epigenetik – also in unserem Lebensstil. Die Longevity-Medizin setzt genau hier an: Sie versucht, durch Veränderung und Optimierung von Lebensstilfaktoren das Epigenom positiv zu beeinflussen. Heute kann man sogar das biologische Alter messen, um herauszufinden, wie alt man „wirklich“ ist.
Viele verbinden Longevity mit Hightech-Medizin und Supplements. Welche Rolle spielen klassische Faktoren wie Ernährung und Bewegung im Vergleich zu innovativen Methoden?
Eine sehr große. Studien zeigen etwa, dass Fasten bestimmte Langlebigkeitsgene aktiviert. Der Verzicht auf Gluten und Kuhmilchprodukte reduziert stille Entzündungen, die das biologische Alter stark beeinflussen. Intervalltraining wiederum stimuliert die Langlebigkeitsgene und verbessert die Methylierung – also das An- und Abschalten von Genen – auf fast 8.000 Genen. Ernährung und Bewegung sind also zentrale Säulen.
Welche Entwicklungen oder Forschungsergebnisse im Bereich Longevity faszinieren Sie persönlich am meisten – und warum?
Besonders spannend finde ich die Epigenetik und die epigenetische Vererbung über Generationen. Sie umfasst fast alle Bereiche des Lebensstils – und zeigt, dass wir aktiv mitgestalten können, wie lange und wie gesund wir leben.
Wo liegen die größten Missverständnisse über Longevity?
Ein weit verbreiteter Irrtum ist, dass man keine Lebensstilveränderung braucht – oder dass Nahrungsergänzungsmittel allein „alles heilen“ könnten. Beides stimmt nicht.
Wie kann man Longevity im Alltag umsetzen? Welche drei Maßnahmen würden Sie jemandem empfehlen, der ohne großen Aufwand sofort starten will?
- Stressreduktion: durch geführte Meditation oder die Aktivierung des Vagusnervs, etwa durch tägliches Singen oder Gurgeln.
- Bewegung: sogenannte NEATs (non-exercise activity thermogenesis) steigern – also kleine Alltagsbewegungen wie Treppensteigen, Gehen oder Aufstehen. Wiederholt man diese mit kurzen intensiven Phasen, steigt der Kalorienverbrauch erheblich.
- Ernährung: keine Rohkost nach 16 Uhr und eventuell die „Hormondiät“ von Sara Gottfried ausprobieren: Für 21 Tage bestimmte Lebensmittel wie Zucker, Gluten, Fleisch und Milch weglassen, die das hormonelle Gleichgewicht negativ beeinflussen.
Es heißt oft: 40 ist das neue 30. Stimmt es, dass wir tatsächlich jünger altern?
In Ländern wie Italien oder Spanien altern die Menschen gesünder – durch Ernährung, Lebensstil und soziale Faktoren. Global gesehen altern jedoch die meisten Menschen nach wie vor zu früh und erkranken zu früh.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Was hat Sie dazu gebracht, sich so intensiv mit dem Thema Langlebigkeit zu beschäftigen? Und wie hat das Ihre eigene Lebensweise verändert?
Vor einigen Jahren sollte ich für eine Gesundheitseinrichtung ein neues Konzept entwickeln. Dabei habe ich in den USA die Longevity-Medizin kennengelernt – und war sofort fasziniert, weil sie erstmals einen echten Ausweg aus der reinen Reparaturmedizin bot. Für mich persönlich habe ich meine Genetik analysiert und achte seither darauf, meinen Körper nicht mit Dingen zu belasten, die er nicht gut verarbeiten kann.
Unsere Expertin
Dr. Karin Stengg ist Fachärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie sowie Präsidentin der internationalen Gesellschaft für Healthy Aging Medizin.
Website: https://www.drkarinstengg.com
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